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Umbauen statt abreißen. Wie die Bauwende in Deutschland gelingen kann und was es dabei zu gewinnen gibt

Laura Weißmüller
Feuilleton-Redakteurin der Süddeutschen Zeitung

Festvortrag zur Verleihung des Niedersächsischen Staatspreises für Architektur 2022 „Öffentliches Um-(Bauen) – auf dem Weg zur Klimaneutralität“ am 23. Juni 2022 im Alten Rathaus Hannover

Sehr verehrte Damen und Herren, lieber Herr Bauminister Olaf Lies, lieber Herr Kammerpräsident Robert Marlow, liebe anwesenden Abgeordnete des Niedersächsischen Landtags, liebe Bewerberinnen und Bewerber um den Niedersächsischen Staatspreis, liebe Architektinnen und Architekten, liebe Veranstalter!

Ich freue mich wirklich sehr, heute hier sein zu dürfen! Ich freue mich, weil wir gleich nach meinem Festvortrag sprichwörtlich ausgezeichnete niedersächsische Architektur sehen werden. Obwohl ich nun seit fast 13 Jahren in meiner Arbeit als Architekturredakteurin der Süddeutschen Zeitung genau das mache – mir ausgezeichnete Gebäude angucken – hat meine Begeisterung für gute Architektur in all den Jahren nicht nachgelassen. Wie auch? Architektur, das wissen Sie alle, kann – wenn sie denn gut ist – Enormes leisten. Sie kann Menschen glücklich machen: Weil sie darin Kunst so sehen können, dass es sie berührt. Weil sie darin ein selbst bestimmtes Leben führen können, auch wenn sie alt sind oder körperlich eingeschränkt. Weil sie darin entspannt Ferien machen können. Weil sie darin konzentriert lernen können. Oder auch – für mich eine der wichtigsten Qualitäten ausgezeichneter Architektur – weil sich darin eine Gesellschaft begegnen kann. Architektur hat tatsächlich die Kraft, Menschen zu verbinden. Diese Fähigkeit und auch die Verantwortung, die sich daraus ergibt, sollten wir uns immer wieder bewusst machen und diese auch einfordern.

Zum anderen freue ich mich aber auch, heute vor Ihnen sprechen zu dürfen, weil es so wichtig ist, was Sie machen, liebe Architektinnen und Architekten! Von Ihrer Baukunst wird gerade Enormes erwartet. Muss sie sich doch den gewaltigen Problemen unserer Gegenwart stellen. Oder, lassen Sie es mich offen sagen: Die Architektur muss sich diesen Problemen stellen, weil sie diese – durch den Bau von Gebäuden und das Betreiben derselben – selbst mitverursacht. Die Rede ist von der Klimakatastrophe, von den schwindenden Ressourcen auf diesem Planeten und was wir anstellen müssen, damit wir, damit unsere Kinder und deren Kinder noch eine Chance haben, diese Welt so zu erleben wie wir sie kennen!

Aber keine Angst: Ich möchte Ihnen in meiner Rede Mut machen. Das klingt vielleicht etwas seltsam in Zeiten wie diesen, wo ein Blick in die Nachrichten reicht, um die Laune zu verdüstern. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel liefern ja täglich Schlagzeilen, die uns eigentlich aufrütteln müssten. Wie wir mit der Architektur, wie wir mit unseren Gebäuden umgehen, wird mit darüber entscheiden, ob wir die Auswirkungen des Anthropozäns noch mildern können – oder eben nicht. Gebäude sind Brandbeschleuniger der Klimakatastrophe, weil sie weltweit für 40 Prozent der energiebezogenen CO2-Emissionen verantwortlich sind. Sie zu errichten gleicht regelmäßig einer Materialschlacht. Bauen verursacht aber auch gigantische Müllberge – es gibt Studien, die 50 Prozent des weltweiten Mülls auf das Bauen zurückführen. Und ob wir mit den Materialien, die wir gerade verwenden, um Gebäude zu dämmen, nicht den Sondermüll von morgen produzieren, wird sich noch erweisen.

Sie als Architektinnen und Architekten sind also gefordert! Sie müssen eine Architektur schaffen, die sich diesen gewaltigen Problemen stellt und die uns glücklich macht! Zu viel verlangt, meinen Sie? Sie haben mächtige Mitstreiter!

Vor Kurzem saß ich mit Jean-Philippe Vassal in Kassel auf dem Podium. Der französische Architekt ist meiner Meinung nach einer der besten seines Faches. Er und seine Bürokollegin Anne Lacaton sind im vergangenen Jahr mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurden. Warum? Zum Beispiel, weil beide Sätze sagen wie: „Niemals abreißen!“ Diese Aufforderung ist so wichtig, weil Bauen im Bestand heute auch eine ethische Frage ist. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, die Abrissbirne zu ordern, nur weil Gebäude unbequem oder altmodisch geworden sind. Und uns dann die Neubauten schönrechnen mit dem Argument, diese seien ja energiesparend. Sie sind es nicht. Sie können es gar nicht sein. Weil man beim Abriss all die graue Energie vernichtet, die in den alten Gebäuden steckt. Weil man aber auch mit einem enormen Energieaufwand die Materialien für den Neubau erst einmal herstellen muss.
Umbauen statt neu bauen, muss deswegen die Devise lautet. Wie das funktionieren kann, das zeigen Lacaton & Vassal auf vorbildliche Weise. Ans Herz legen möchte ich Ihnen vor allem ihre Umbauten von ehemals tristen Wohnhochhäusern. Denn diese Projekte zeigen, welches fast wundersame Potential im Bestand steckt. Dem tristen Scheibenhochhaus rasierte das Architekturbüro an einer Seite die Fassade ab und setzte eine neue Raumschicht aus flexibel nutzbaren Wintergärten davor. Eine Wohnung von 44 Quadratmetern hatte plötzlich 26 Quadratmeter mehr und vermittelte ein Raumgefühl, als würde man sich nicht am Stadtrand befinden, sondern in einer Villa auf dem Land. Mit offenen lichtdurchfluteten Räumen und einem weiten, unverstellten Blick nach draußen.

„Die Qualität des öffentlichen Raums“, davon ist Vassal überzeugt, „beginnt bei jedem Einzelnen zu Hause.“ Wer dort genug Platz hat, etwa um Freunde einzuladen oder seinen Hobbys nachzugehen, wird entspannter seine Wohnung verlassen als der, der nur Raum für das Nötigste hat. Viele Sozialbauwohnungen sind viel zu klein, um selbstbestimmt dort zu leben. „Bauen Sie doppelt so viel!“, lautet deswegen eine andere Forderung von Lacaton & Vassal. Das Büro zeigt, wie das gerade den Sozialbau – ein Wort das Jean-Philippe Vassal übrigens nicht mag, weil es der Architektur eine soziale Klasse zuordnen – sagen wir also, wie es den öffentlichen Bau atmen lässt.

Vielleicht fragen Sie sich jetzt, wie diese Forderung, doppelt so viel zu bauen, zusammenpasst mit der Aufforderung an uns alle, weniger Raum pro Kopf zu verbrauchen? Schließlich ist unser Pro-Kopf-Quadratmeterverbrauch in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland enorm gestiegen, inzwischen auf sagenhafte 47,4 Quadratmeter. Im Jahr 1950 lag der pro Kopf Verbrauch noch bei 14 Quadratmetern.

Ich denke, der Umgang mit den Wohntürmen aus den Sechzigerjahren beantwortet diese Frage. Denn eigentlich sollten sie abgerissen werden. Die französische Regierung plante Anfang der Nullerjahre im großen Stil die Sprengung der ungeliebten Betonsiedlungen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren. 200.000 Wohnungen sollten abgerissen und wieder neu aufgebaut werden. Vassal wies zusammen mit Anne Lacaton und Frédéric Druot in der viel beachteten Studie „Plus“ nach, dass es günstiger wäre, die Betonriesen zu attraktiven Wohnbauten umzubauen, mit deutlich mehr Platz, Licht und Komfort für die Bewohner, und das für deutlich weniger Geld als für Abriss und Neubau veranschlagt worden waren. Leider griff die französische Regierung den Vorschlag nicht auf. Aber zumindest zeigt das Beispiel aus Bordeaux, was man gewinnt, wenn man mit dem Bestand kreativ umgeht: Wir können enorme Ressourcen sparen. Wir können aber auch Qualitäten der Moderne, die heutzutage gar nicht mehr im Neubau möglich wären, bewahren und für die Zukunft nutzbar machen.

Wie ein ähnlich ungeliebter Gebäuderiese wie die französischen Betonwohntürme durch einen Umbau zu etwas komplett Neuem, ja zu etwas extrem Zeitgenössischen verwandelt werden könnte – ohne seine Qualitäten zu verlieren –, das macht auch die geplante Sanierung vom Münchner Gasteig sichtbar. Unsere Kulturmaschine ist, 1985 eröffnet, in die Jahre gekommen. Gleichzeitig brauchen die vielen Nutzer dieses Hauses neue Funktionen: Die Stadtbibliothek will und muss ihren Besuchern heute viel mehr bieten als „nur“ eine Bücherausleihe. Auch das Angebot der Volkshochschule hat sich gewandelt. Und die Philharmonie steht vor einem noch viel größeren Problem. Klassikfans unter Ihnen können es vermutlich nachfühlen, was für ein Dilemma es bedeutet, drei großartige Orchester in der Stadt zu haben, und einer der wichtigsten Konzertsäle – noch dazu der größte in der Stadt – bietet auf einem Drittel der Plätze nur eine „schlechte Akustik“. Meine Mängelliste bedeutet aber nicht, dass das Gasteig nicht unschlagbare Qualitäten besitzen würde: Tatsächlich ist es für mich eine grandiose Begegnungsmaschine! Durch die unterschiedlichen Nutzer, die hier zuhause sind, trifft sich hier die Münchner Gesellschaft. Das reicht vom Vater mit dem Krabbelkind bis zur klassikbegeisterten Seniorin und dem jugendlichen Deutschkursbesucher. Genau aus diesem Geist – Treffpunkt für eine diverse Stadtgesellschaft zu sein – wurden auch so renommierte Kulturinstitutionen wie das Londoner Barbican Centre oder das Pariser Centre George-Pompidou gegründet. Ein solches Versprechen ist heute wichtiger denn je, gibt es doch immer weniger Orte, wo sich eine Gesellschaft treffen kann, nicht nur, aber vor allem in so teuren Städten wie München.

Was also soll mit dem Gasteig passieren? Das Architekturbüro Henn, das die Sanierung durchführen wird, spricht von einem „minimalinvasiven Eingriff“, weil so wenig wie möglich vom Ursprungsbau abgebrochen werden soll und so viel wie möglich von dem Gebäude mit den handgeschlagenen roten Ziegeln erhalten bleiben soll. Doch der Eingriff reicht aus, um den Gasteig komplett zu verwandeln. Die Architekten wollen einen dreistöckigen Glasriegel einmal quer durch das Gebäude schieben. Dadurch gewinnen alle drei Nutzer etwas komplett Neues: die Münchner Volkshochschule einen gläsernen Debattiersaal, die Bibliothek eine weite Treppenlandschaft und neue Nutzungen, die Konzertbesucher ein Foyer und Treppenhäuser, in denen man sich zurechtfindet. Und die Stadt selbst ein Gebäude, das sich zu zwei Seiten transparent öffnet, statt mit einer verschlossenen Backsteinfassade so zu tun, als müsste es feindliche Angriffe abwehren. Aus der Trutzburg wird so eine gläserne Treffpunktmaschine, die das bunte Leben, dem der Gasteig seit jeher ein Zuhause bot, auch nach außen zeigt. Oben drauf bekommt das Haus mit Dachrestaurant, Aussichtsplattform und Lerngarten auch eine begehbare Dachlandschaft, die eigentlich schon die letzten 40 Jahre hier hätte sein müssen. Denn nirgendwo dürfte der Blick auf Isar und Stadt dahinter so fantastisch sein wie hier auf dem Isarhochufer. Nicht zu vergessen natürlich ein Weltklasse-Konzertsaal, den eine fortwährend der Großmann-Sucht verfallende Stadt wie München natürlich braucht.

Der sanierte Gasteig könnte damit – wenn der Umbau 2030 abgeschlossen ist – zeigen, wie man die guten Eigenschaften alter Gebäude bewahrt, und gleichzeitig das behebt, was nicht funktioniert in ihnen, vielleicht sogar noch nie funktioniert hat. Obwohl man dadurch ein in seinen Funktionen neues Gebäude erhält, wird die Umwelt dadurch deutlich weniger belastet als wenn man einen Abriss und Neubau realisiert hätte. Denn hätte man den Gasteig abgerissen und dort ein neues Konzerthaus gebaut, wie es die Münchner FDP tatsächlich gefordert hat, hätte das 50.000 Tonnen CO2 mehr verursacht. Das allein entspricht einer Waldfläche von 100 Hektar.

Verwenden was da ist, und daraus das Beste machen – das Credo passt auch zu meinem zweiten Beispiel aus München: der Isarphilharmonie. Das Büro gmp hat den Konzertsaal an eine ehemalige Trafohalle der Stadtwerke gebaut und hat in das denkmalgeschützte Industriegebäude das Ausweichquartier der Stadtbibliothek gepackt. Selbst Kritiker vom Londoner guardian und der New Yorker Times reisten an, um zu verstehen, wie das – in der kurzen Bauzeit und bei dem knappen Budget – klappen konnte. Temporär – so wie es geplant war – dürfte die Isarphilharmonie sicherlich nicht bleiben, dafür hat sie sich schon jetzt – nach nicht mal einem Jahr – zu sehr in die Herzen der Münchnerinnen und Münchner gespielt. Akustisch, aber eben auch durch ihre inhaltliche Mischung: Wenn Sie in den Konzertpausen der Isarphilharmonie durch die Halle spazieren, können Sie sich mit den Münchner Bücherei-Besuchern die Beine vertreten. Studierende büffeln hier über ihre Semesterarbeit, während die alte Dame ihr Abendkleid daneben ausführt.

Wenn das Interimsquartier fürs Gasteig nicht in den alten Industriekubus eingesetzt worden wäre, sondern neu gebaut, hätte nie ein Budget von 120 Millionen Euro gereicht. Dann hätte es aber auch mit Sicherheit nicht diese Begeisterungsstürme für den Ort gegeben. Ein altes Gebäude speichert eben nicht nur graue Energie. Ein Haus speichert auch seine Geschichte. Wie ein Hausgeist sorgt diese für eine Atmosphäre, etwas, das Menschen intuitiv wahrnehmen. Wer ein Gebäude abreißt, vernichtet diese Atmosphäre gleich mit. Weswegen eine Gesellschaft sich da gerade ihres gebauten Gedächtnisses beraubt, so häufig wie in diesem Land aktuell die Abrissbirne geschwungen wird. Wie bereichernd es dagegen ist, wenn wir es schaffen, die alten Hausgeister zu bewahren und sie in die Zukunft zu führen, zeigt die Isarphilharmonie!

Manchmal denke ich, dass Deutschland sich mit seinem Bestand schwerer tut als andere Länder. Viel zu oft lautet hier immer noch das Credo: „Nur neu ist wirklich gut.“ „Nur wenn wir neu bauen, können wir auch unseren Ansprüchen von Heute gerecht werden.“ „Nur neu ist auch modern.“

Ich kann mir zum Beispiel kaum vorstellen, dass Deutschland, wenn es ein neues großes Bundesministerium braucht, einfach einen beliebigen Büroturm nimmt und ihn so umbaut, dass man das Gefühl hat, dort nicht nur ein neues Gebäude zu besichtigen, sondern gleich die Zukunft des Arbeitens: So geschehen in den Niederlanden. Als das Land ein neues Außenministerium und auch ein neues Verkehrsministerium brauchte, ließ es vom niederländischen Architekturbüro OMA, gegründet von Pritzker Preisträger Rem Koolhaas – ich sagte doch, dass Sie mächtige Mitstreiter haben –, einen absolut schmucklosen Büroturm umbauen. Wer heute durch die Rijnsstraat 8, wie das Gebäude heißt, durchläuft, fühlt sich wie in der Zukunft gelandet – und nicht wie in einem Bau aus den Neunzigerjahren.

Oder das Gebäude im belgischen Melle. Zugegeben: Wer sich dem großen Psychiatriegebäude aus Backstein nähert, ist erst einmal irritiert. Ist es vielleicht doch eine Ruine? Das Dach ist bis aufs Gerüst abgedeckt, vielen Fenstern und Türen fehlt der Rahmen. Gleichzeitig hat der Eingang aber so einen strahlenden weißen Vorbau, dass klar ist: Irgendetwas ist hier passiert. Allein die Wanderung durch dieses wundersame Haus löst ein gigantisches Freiheitsgefühl aus. Der Besucher ist gleichzeitig drinnen und draußen, will sofort jeden Winkel in einem Gebäude erkunden, dem ganze Stockwerke fehlen, in dem aber ein offener Kamin mit Feuerholz jederzeit benutzt werden kann. „So, wie Sie das Gebäude erleben, haben wir es vorgefunden", hat mir Jan de Vylder damals beim Rundgang mit Blick durch das offene Dach erzählt. Der belgische Architekt hat mit seinem Büro De Vylder Vinck Tailieu (DVVT) den „Josef“ – wie dort alle den Backsteinbau nennen –, ja, was? Saniert trifft es nicht und umgebaut auch nicht. „Wir wollten das Skelett des Gebäudes erhalten, damit es später vielleicht ganz anders genutzt werden kann.“

Das bedeutet, dass das Büro bei seinem Entwurf eine spätere Veränderung des Baus gleich miteinkalkuliert hat. Just dieser Ansatz macht „Josef“ so außergewöhnlich. Denn der Bau war zwar nach dem Eingriff von De Vylder Vinck Tailieu sofort einsetzbar. In den Glashäusern treffen sich Psychiater und Patienten zu Therapiestunden, dort finden Teamsitzungen statt. Das rund um die Uhr zugängliche Erdgeschoss besitzt einen Bereich für Veranstaltungen. Aber das Haus könnte in Zukunft auch ganz anders genutzt werden. Die Architekten schreiben mit ihrem sanften Umbau nichts für die Ewigkeit vor. Leicht ließen sich hier Wände einziehen oder Öffnungen schließen. „Als Architekt kann man nicht nur ein Zukunftserfüller, sondern auch ein Zukunftsermöglicher sein“, so de Vylder.

Der Entwurf fordert also geradezu dazu auf, von der nächsten Generation neu interpretiert zu werden. Eigentlich logisch, schließlich stehen Häuser Jahrzehnte lang. Wie soll ein einzelner Architekt oder ein Büro wissen, wie sich die Wünsche und Bedürfnisse einer Gesellschaft ändern? Das Psychiatriegebäude in Belgien ist in dieser Hinsicht extrem ehrlich – und schafft gerade dadurch etwas radikal Neues. Aber wäre ein Psychiatriegebäude wie in Melle nach deutschem Baugesetz überhaupt möglich? „In Belgien ist dieses Gebäude nach belgischem Baugesetz auch nicht möglich", sagte Jan de Vylder. Der Architekt hat die Regeln und Standards kreativ ausgehebelt. Etwa indem „Josef“ nicht als Gebäude behandelt wurde, sondern wie ein Außenraum. Wer Neues schaffen will, darf sich manchmal eben nicht an alte Regeln halten. Auch wenn das Neue, wie bei meinen Beispielen, stets in alten Gebäuden dahergekommen ist!

Ich hoffe, ich konnte Sie durch meine Beispiele dazu motivieren, den Bestand noch mehr wertzuschätzen als Sie das vermutlich eh schon tun. Denn ich bin überzeugt: Wenn uns der Perspektivwechsel gelingt, wenn wir die alten Gebäude wirklich als das sehen, was sie sind: eine gigantische Quelle an materiellen, aber eben auch immateriellen Ressourcen, dann wird in diesem Land nicht nur die so notwendige Bauwende gelingen, sondern dann können wir uns auch auf ganz neue Häuser, neue Typologien, eine neue Architekturen freuen. In diesem Sinne: Seien Sie Zukunftsermöglicher!