Festvortrag
Die Königsdisziplin der Architektur - Plädoyer für einen Paradigmenwechsel
Dr. Christian Welzbacher
Kunsthistoriker und Journalist
Verehrtes Publikum, meine Damen und Herren,
regelmäßig gibt es unter Architektinnen und Architekten Umfragen, bei denen unter anderem eruiert wird, welche Bauaufgabe sie in ihrem Berufsleben gerne einmal bearbeiten wollen. Eine seit Jahrzehnten immer wieder gehörte, durchaus weit verbreitete Antwort ist dann: „Eine Kirche oder ein großes Theater.“ Natürlich ahnt man sogleich die Absicht hinter diesem Wunsch: Es geht um einen möglichst hohen Anspruch an die Gestaltung; Fragen der Baukunst als Raumkunst sollen in all ihrer Komplexität ausgelotet werden; die Herausforderung ist ein Baukörper, der als Versammlungsort für Menschen gleichzeitig ein Erlebnisort darstellt, in dem sich – mit den Mitteln der Architektur – das Soziale neu konstituiert. „Bauten der Gemeinschaft“: Das scheinbar ist die Königsdisziplin des Entwerfens. In ihnen scheint architektonisches Wissen um Form, Ordnung, Material, Konstruktion zu gipfeln. Hier scheinen Entwerferinnen bzw. Entwerfer, Auftraggeber und Rezipient fast symbiotisch zu verschmelzen.
Eine Kirche oder ein großes Theater – das klingt tatsächlich gut. Aber ist ein solcher Bauwunsch, vorgetragen von einem Planer am Beginn des 21. Jahrhunderts, nicht eher Ausdruck von Eitelkeit? Spiegelt er nicht gar ein Architekturverständnis, das weniger Fachleuten als Laien vorschwebt, denen große Gesten und Überwältigungsszenarien – Effekte eben – vor Augen stehen? Ich muss zugeben: Die „Kirche-und-Theater“-Antwort sorgt bei mir immer für leichte Befremdung. Sie erinnert mich sehr an akademische Rankings des 18. Jahrhunderts, obwohl sich doch die Kategorien gewandelt haben sollten, da die Hierarchie der Bauaufgaben längst neu verhandelt, neu geordnet erscheint. Verkennt nicht der Wunsch in gewisser Weise gar die gesamte Entwicklung der Moderne des 20. Jahrhunderts, die doch eindrücklich vorgeführt hat, dass es einen weitaus elementareren, dabei äußerst faszinierenden Bautypus gibt, der uns täglich umgibt und dabei den Rezipienten so viel näher ist, als es Kirchen und Theater je sein könnten? Ist die eigentliche, die wahre Königsdisziplin der Architektur nicht: der Wohnungsbau?
Nirgendwo ist Architektur so sehr bei sich selbst wie im Wohnungsbau. In ihm zeigten sich die Architektin oder der Architekt tatsächlich als Raumkünstler; als Organisatoren; als sozial denkende Wesen; als verantwortliche Planer, die Möglichkeitsräume schaffen, gebaute Refugien, die offen sind für die alltägliche Eroberung durch ihre Bewohnerinnen und Bewohner.
Umgekehrt wissen wir alle: Nirgendwo anders sind Menschen derart auf Gedeih und Verderb der anwesenden oder auch fehlenden Kreativität der Planerzunft ausgeliefert wie in ihrer Wohnung. Mangelhafte Belichtung, fehlende Belüftung. Dysfunktionale, zugige Loggien. Winzige Balkons. Verschnittene Räume mit zu niedrigen oder zu hohen Decken. Korridore ins Nichts. Innenliegende Bäder. Fenster, die nur halb aufgehen. Hier Kabuffs, dort ununterteilbare Riesenräume. Die Kritik an all dem ist Legion. Sie ist allerdings – leider – auch zum Teil berechtigt.
Aber weit wichtiger erscheint mir ein anderes Problem, mit dem der Wohnungsbau zu kämpfen hat: eine über Jahrzehnte gewachsene, systematische Stigmatisierung, die von außen in die Architekturdiskussion hineingetragen wurde und hier für schwere Verwerfungen gesorgt hat. Lassen Sie mich das an einem prominenten Beispiel illustrieren: der 1956 nach dem Entwurf von Minoru Yamasaki (dem späteren Schöpfer der New Yorker „Twin Towers“) errichteten Sozialsiedlung Pruitt Igoe im US-amerikanischen St. Louis, die nach nur gut 15 Jahren ihrer Existenz komplett abgerissen wurde. Die Sprengung dieser Backsteinblöcke hat man 1972 sogar im amerikanischen Fernsehen übertragen. Und der einflussreiche Kritiker Charles Jencks, der Erfinder des Begriffs „Postmoderne Architektur“, entwickelte daraufhin die These, dieser Abriss markiere nicht nur das Scheitern, sondern das „Ende der Moderne“ insgesamt.
Meine Damen und Herren, mir kommt es hier darauf an, ein Bewusstsein auf das scharfe Schwert der Rhetorik zu lenken. Jencks stimulierte mit seiner These einen Diskurs, unter dem der Wohnungsbau seit den 1970er Jahren massiv zu leiden hat. Einerseits wird hier das Wohnungswesen für vermeintliche Verfehlungen der gesamten Architektur verantwortlich gemacht, also mit Kritik vollkommen überfrachtet. Andererseits wurden und werden an dieser Stelle die Ebenen vertauscht. Man benennt eben nicht die Fehlentwicklung der dem Siedlungsbau zugrundeliegenden, falschen Weichenstellungen der Sozialpolitik – Verfehlungen, die durch Initiative, Geld und Personal an den richtigen Stellen und mit viel Zeit ja durchaus zu beheben sind, wie positive Beispiele belegen. Stattdessen wird gegen ästhetische Oberflächen polemisiert (die vielleicht aus Kostengründen gar nicht anders hatten gestaltet sein können). Es ist beinahe, als wollte man den Bewohnerinnen und Bewohnern solcher Siedlungen noch hinterherrufen: Ihr seid doch selber Schuld, in solche architektonischen Ausgeburten zu ziehen.
Erinnern Sie sich bitte daran, dass das Diskursmuster von Pruitt Igoe auch in Deutschland bis heute das Denken über den sozialen Wohnungsbau in weiten Teilen bestimmt. Die Großsiedlungen der 1970er Jahre; die Neue Heimat und ihre oft hämisch kommentierte „Pleite“, die ja nicht Bewohnerschaft oder Architekten, sondern Manager und Politiker zu verantworten haben; die Plattenbauten der DDR: das alles sind stigmatisierte Architekturen – Architekturen, deren Qualitäten, deren Entstehungszusammenhänge und deren sehr komplexe Problemlage zu leicht vereinfacht, zu oft ignoriert werden. Wollte man zu einer (durchaus überfälligen) gerechteren Einschätzung gelangen, man müsste mühevolle Kärrnerarbeit leisten. Denn sogar die grundsätzliche Bereitschaft, sich mit diesen Bauten eingehender auseinanderzusetzen, ist denkbar gering. Ist das nicht, angesichts der Tatsache, dass hunderttausende, ja weltweit Millionen von Menschen in Bauten dieser Art leben, ein Armutszeugnis derer, die sich mit Architektur „beschäftigen“? Denken wir im Weiteren auch daran, dass das eben skizzierte Stigma die Grundlage dafür gelegt hat, dass nach der „geistig-moralischen Wende“ unter Bundeskanzler Helmut Kohl nach 1982 der soziale Wohnungsbau in Deutschland sukzessive abgeschafft wurde – mit allen Konsequenzen, bis heute.
Und gerade aufgrund dieser Konsequenzen sind wir heute umso mehr aufgefordert, falsche Zuschreibungen und die Vertauschung von Diskursebenen zu erkennen und zu korrigieren, um sodann beherzt gegen die Marginalisierung der Aufgabe Wohnungsbau anzugehen. Ich hoffe, der heutige Abend und der Staatspreis sind dazu ein Beitrag – und ich kann die Auslober, Land und Architektenkammer Niedersachen, nur ausdrücklich beglückwünschen, dass sie den Wohnungsbau als diesjähriges Thema des Niedersächsischen Staatspreises für Architektur auf die Agenda gesetzt haben, zumal es ja tatsächlich kaum ein brennenderes Thema in der Architektur geben könnte. Die über rund 30 Jahre lang politisch forcierte Neoliberalisierung des Wohnungswesens hat zu eklatanten Verwerfungen in diesem, unserem Lande geführt – fraglos von Anfang an mit voller Absicht und mit vollem Wissen der Akteure. Heute sind 80 Prozent aller deutschen Wohnungen in privater Hand. Unlängst hat das in Hannover ansässige Pestel-Institut im Auftrag der IG Bau festgestellt, dass in Deutschland rund 8 Millionen Sozialwohnungen gebraucht werden. Gleichzeitig konstatiert das Statistische Bundesamt einen enormen Durchschnittsflächenzuwachs pro Bewohnerin bzw. Bewohner und Wohnung: 1970 lebte ein westdeutscher Otto-Normalverbraucher noch auf gut 25 Quadratmetern, heute ist es die nahezu doppelte Fläche. Und dann gibt es noch ein weiteres Problem: das des Leerstandes, sei es, weil ein Kleineigentümer für dringende Sanierungen keine Rückstellungen gebildet hat; sei es wegen des demographischen Wandels oder weil es schlicht keinen Bedarf gibt; sei es aus Gründen der Spekulation, die in Hannover aktuell mit dem Namen Dolphin Capital/German Property Group verbunden ist, einer Art Wirecard des Immobiliensektors. Übrigens haben wir für diesen gesamten, für die Baupolitik und das Sozialwesen zentralen Themenkomplex erstaunlich wenig belastbares Zahlenmaterial. Regelmäßig aufkommende Diskussionen lassen dabei allenfalls erahnen, dass das Phänomen in großem, wachsendem Umfang nicht allein den ländlichen Raum, sondern auch die Metropolregionen betrifft. Bevor wir daran gehen, solche und weitere Defizite und Missverhältnisse abzubauen, diesen uns alle betreffenden flächen- und ressourcenökonomischen, aber eben auch gesellschaftlichen Sprengstoff zu entschärfen, sind wir fraglos daran gehalten, grundlegend über die politischen und damit die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nachzudenken. Wir müssen uns ernsthaft, gar radikal, das heißt ganz grundsätzlich fragen, ob unser bisheriges System geeignet ist, die Herausforderungen in angemessener und zügiger Weise zu lösen. Es reicht nicht, nur zu überlegen: Wie wollen wir wohnen? Wir müssen uns überlegen: In welcher Gesellschaft, welcher Sozial- und Wirtschaftsordnung wollen wir leben? Und das heißt immer: Wir alle. Dies alles, so zeigt sich am heutigen Abend, haben die Auslober des Niedersächsischen Staatspreises für Architektur längst erkannt. Und sie werden fraglos auch über den heutigen Abend hinaus ihren aktiven Beitrag zum Diskurs leisten: einerseits durch die Kooperation zwischen Land und Architektenkammer; andererseits durch einen gewissen öffentlichen Druck, der der Politik einen Weg weist, wie dank der Kompetenz der von Architektinnen und Architekten Lösungsansätze gefunden und eingefordert werden können.
Denn – drehen wir das Ganze wieder ins Positive – wie beglückend ist es, in eine kleine Wohnung zu kommen, in der ein Baumeister mit ebenso kleinen, aber pfiffigen planerischen Kniffen etwas gestaltet hat, was man liebevoll „Lebensraum“ nennen kann? Ein geschickter Grundriss stuft die Raumhierarchie zwischen Gemeinschaftsbereich und privatem Refugium so ab, dass sie sogar bei zweieinhalb Zimmern funktioniert. Eine Abstellkammer bietet einen praktischen Mehrwert. Ein Oberlicht sorgt für mehr Behaglichkeit. Einbaumöbel, bodentiefe Fenster, fließende Raumübergänge – wer kennt diese Motive nicht von Siedlungen aus den zwei großen Epochen des Wohnungsbaus in Deutschland, der Weimarer Republik und den 1950er und 1960er Jahren? Beides übrigens Phasen, in denen der politisch-soziale Ausgleich zwischen Schichten oder Klassen einen wesentlichen Teil der Staatsraison ausmachte und entsprechende wirtschaftliche Weichen gestellt wurden, etwa mit der Hauszinssteuer.
Meine Damen und Herren, Wohnungsbau ist praktizierte Menschlichkeit. Und wo er funktioniert im Sinne der Bewohnerinnen und Bewohner, der Rezipienten, dort ist Architektur praktizierter Humanismus, der, historisch betrachtet, immer in eine Zeit fiel, in der demokratische Grundsätze neu ausverhandelt wurden. In diesem Sinne hoffe ich, dass der Staatspreis für Architektur Ihnen und uns allen Kraft verleiht, hier anzuknüpfen: Machen Sie, machen wir den Wohnungsbau wieder zur Königsdisziplin der Architektur. Machen Sie, machen wir Architektur zu einem aktiven Beitrag der Demokratie, ihrer Menschen, unserer Gesellschaft. Machen Sie, machen wir dies alles auch deshalb, weil dieses humanistische Paradigma ein umfassendes Ethos der Integration beinhaltet. Ich bin davon überzeugt: Wenn der Mensch im Mittelpunkt unserer planerischen Aufmerksamkeit steht, dann fügen sich alle anderen wichtigen Aspekte, die in den letzten Jahren so intensiv diskutiert worden sind, beinahe von selbst in die „Planungskultur“ ein. Mensch: das bedeutet Energieeffizienz und Nachhaltigkeit; Mensch: das bedeutet sozial und tolerant; Mensch: das bedeutet barrierefrei und inklusiv; Mensch: das bedeutet gemeinsam zukunftsorientiert wirtschaften, über die Generationen hinweg. Menschliche Architektur von menschlichen Architektinnen und Architekten: Ich wünsche Ihnen und uns dazu viel Erfolg. Herzlichen Dank.